- Von Stephan Busch und Tom Wonneberger
- 27.06.2022 um 17:17
Auf welche Erfindung wollen Sie eher verzichten: Auf die Toilette oder Facebook? Darüber lohnt es sich kurz nachzudenken, bevor Sie weiterlesen. Diese Frage stellte Robert J. Gordon, Makro-Ökonom an der Northwestern University. Sie zielt darauf ab, kritisch zu hinterfragen, ob Facebook beziehungsweise Meta, stellvertretend für die Digitalisierung und den Erfolg von Social Media tatsächlich die Bedeutung hat, die wir und viele andere dem Medium zuschreiben. Die Frage soll uns und Sie leiten, wenn wir über Digitalisierung sprechen und nachdenken.
Bruch oder Prozess?
Gemeinhin erleben wir die Digitalisierung als Bruch oder – wie oben beschrieben – Naturgewalt. Wir sprechen auch von digitaler Revolution. Doch ist sie das tatsächlich? Wir und zahlreiche Forschende sehen das anders. Hier hilft ein kurzer Blick in die Geschichte, um die Digitalisierung besser einzuordnen.
In der Zeit der zweiten Industriellen Revolution (etwa 1870 bis 1940) hat sich das Leben der Menschen (in der westlichen Welt) fundamental gewandelt. Einige der Ursachen waren folgende Erfindungen und Errungenschaften: Telefon, Strom, fließend Wasser, Radio, Fernsehen, Automobil, Flugzeug, Penicillin und so weiter. Die Welt war danach eine gänzlich andere als zuvor. Der gesellschaftliche, gesundheitliche, soziale, wirtschaftliche und politische Wandel war wesentlich tiefgreifender als das, was wir derzeit unter der Digitalisierung erleben.
Der historische Umgang mit solchen Veränderungen ist ein Dreiklang: Angst – Abwehr – Adaption. Die Menschen hatten Angst, von der Lok im Kinofilm überfahren zu werden. Danach kamen Tugendwächter und prangerten den Sittenverfall an. Schließlich nach einigen Jahren oder Jahrzehnten wird die Veränderung adaptiert und wird alltäglich. Genau das erleben wir derzeit auch mit der Digitalisierung.
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Grundsätzlich ist die Digitalisierung ein Prozess, der vor 100 Jahren begonnen hat. Er begann mit dem Lochkartensystem in Amerika zur Bevölkerungsanalyse und -zählung um 1890. So konnten erstmals strukturiert große Mengen an Daten erfasst, verarbeitet und gespeichert werden. Der größte Teil dessen, was wir heute als digitale Revolution begreifen, war in den 90er-Jahren des 20 Jahrhunderts abgeschlossen: Schaltkreise, Computerchips, Internet, Email, GPS-Tracking, MP3, Digitalfotografie, Software, Betriebssysteme, grafische Benutzeroberfläche, Touchdisplays und mehr. Die meisten dieser Erfindungen kamen übrigens aus staatlichen Laboren und nicht etwa aus den privaten Überfliegern von heute wie Apple.
Selbstverständlich, die Systeme werden kleiner, schneller, günstiger und sind dadurch weiter verbreitet. Aber alle wesentlichen Bausteine für die Digitalisierung liegen seit fast 30 Jahren vor. Revolution sieht anders aus.
An dieser Stelle wollen wir einen weiteren Mythos ausräumen. Viele glauben und behaupten, dass wir durch die Digitalisierung besonders viele junge Firmen haben, die alles mit ihren disruptiven Erfindungen und Geschäftsmodellen umstürzen. Der Anteil junger Firmen in den USA lag 1978 bei etwa 15 Prozent. 2011 ist diese Quote auf 8 Prozent gesunken. Wo sind sie also, die jungen, wilden Firmen? Es gibt sie nicht in der Menge. Dieser Eindruck rührt von den wenigen, sehr großen, scheinbar jungen Firmen her wie Amazon, Google und Facebook. Amazon ist aber schon fast 30 Jahre, Google 25 Jahre und Facebook fast 20 Jahre alt. Sie kaufen einfach die jungen Firmen auf, bevor sie ihnen gefährlich werden können.
Zwei Bereiche haben sich jedoch stark entwickelt: Unterhaltung und Konsum. Hier hat die Digitalisierung wirklich Spuren hinterlassen. Dadurch, dass wir damit jeden Tag in Berührung kommen, haben wir diese Wahrnehmungsverzerrung. Als Beispiele für diese Veränderung seien genannt: Meta (ehemals Facebook, Social Media), Netflix (Filme), Amazon (Handel), Spotify (Musik).
Status quo
Und wie ist der Stand der Digitalisierung in der Versicherungsvermittlung? Bevor wir uns einige erhellende Statistiken anschauen, möchten wir auf zwei Paradoxa hinweisen. Sie zu kennen ist wichtig, um einige Grundprobleme und falsche Erwartungen an die Digitalisierung zu verstehen.
Gerade die Hersteller von Software werben mit einem hohen Nutzen ihrer Angebote bei gleichzeitig geringem Aufwand (finanziell, organisatorisch und so weiter). Dadurch entsteht bei den Meisten die nachvollziehbare Erwartung, dass die Software Probleme löst und keine neuen erschafft. Die Realität – das zeigen zahlreiche Fachforen – sieht dann aber häufig entgegengesetzt aus: geringer(er) Nutzen bei deutlichem höherem Aufwand.
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