- Von Andreas Harms
- 21.12.2022 um 17:13
Ich gebe zu, dass ich ein bisschen zu früh dran war. Im August 2013 beschrieb ich in einem Artikel, wie es ist, wenn ein Junkie vom Heroin loskommen will. Schlimme körperliche Beschwerden schon kurze Zeit nach der letzten Spritze und weitere sechs Monate lang gestörter Schlaf, Angst und schlechte Laune. Im Englischen nennt man den kalten Entzug auch Cold Turkey, also kalter Truthahn.
Was war passiert? Damals hatte der Chef der US-Notenbank Fed, Ben Bernanke, nur mal kurz angedeutet, künftig weniger Anleihen kaufen zu wollen. Prompt verlor alles, aber auch alles an den Finanzmärkten an Wert, sogar Gold. Nur Cash hätte damals geschützt. Bernanke ruderte daraufhin zurück – und die Zinssenkungs- und Anleihenkauf-Orgien in Europa und USA gingen weiter. Ist es Zufall, dass die riesigen Geldsummen auch als Finanz-Spritzen bezeichnet werden?
Bei Immobilien braut sich was zusammen
EZB erhöht Zinsen und schlägt Wellen
Warum die Zinswende schon längst da ist
Was wir in diesem Jahr, also satte neun Jahre später, erleben durften, ist der von mir damals schon befürchtete kalte Entzug. Getrieben durch eine voll total überraschend auftauchende Inflationswelle mussten Fed und Europäische Zentralbank (EZB) ihre Finanz-Spritzen nach Jahren wieder zurück in den Arzneischrank packen. Immerhin warfen sie die gehorteten Anleihen nicht gleich zurück auf den Markt. Das wären bei der Fed heute über 8 Billionen US-Dollar und bei der EZB über 4 Billionen Euro. Na, das wäre ja was gewesen.
Doch auch die brusttrommelnd hochgezogenen Leitzinsen und gestoppten Käufe sorgten für reichliche Entzugserscheinungen. Bundesanleihen verloren seit Jahresbeginn rund 15 Prozent an Wert. Jene mit Laufzeiten über zehn Jahre brachen sogar um ein Viertel ein (mehr dazu hier). Der Hightech-Aktienindex Nasdaq 100 gab gar seit Jahresanfang ein Drittel seines Werts ab. Zugleich lechzen die Märkte nervös nach irgendwelchen Nachrichten, die auf wieder sinkende Zinsen hindeuten.
Türkische Aktien, Öl, Gas, Kohle
Wenn ich in der Datenbank von Morningstar nachsehe, welche Märkte in diesem Jahr etwas gewonnen haben, wird es dürftig. Viele sind es in der Tat nicht. Hier sind mal die Top 5 (Wertentwicklung in Euro inklusive Nettodividenden):
- Aktien Türkei (plus 118,6 Prozent)
- Aktien Thermalkohle (plus 89,5 Prozent)
- Aktien global, Öl- und Gasbohrunternehmen (plus 75,0 Prozent)
- Aktien USA, Energie (plus 66,8 Prozent)
- Aktien USA, Öl- und Gasbohrunternehmen (plus 64,9 Prozent)
Das sind nicht gerade jene Märkte, die einem nachhaltig orientierten Investor das Herz in der Brust hüpfen lassen. Ebenso wie Rüstungsunternehmen, die ebenfalls (aus verständlichen Gründen) in diesem Jahr ziemlich gut liefen. Von den normalen, branchenübergreifenden Anlagen ging so gut wie nichts. Sie litten allesamt unter dem oben beschriebenen kalten Truthahn. Vor allem war es ungewöhnlich, dass nicht einmal Bundesanleihen die Aktienverluste abfedern konnten. Damit versagte 2022 eine fast schon in Stein gemeißelte negative Korrelation und damit Schutzfunktion: Aktien runter, Bundesanleihen rauf. Sogar in der Finanzkrise 2008/09 hatte das noch funktioniert.
Doch nun scheint der schlimmste Entzug erst einmal überstanden. Das zuletzt durch Zinsen unter dem Nullpunkt auf den Kopf gestellte Geldsystem steht wieder auf den Füßen. Geldhäuser wollen Geld nicht mehr loswerden, weil es sie Geld kostet. Geld hat wieder einen Wert, nämlich einen Zins. Womit wir bei den guten Nachrichten wären:
1. Die nötige und wichtige Auslese in der Wirtschaft läuft wieder. Die künstlich tiefen Zinsen hatten zu viele Unternehmen am Leben erhalten – so hart das jetzt auch klingen mag. Investoren pumpten mangels Alternativen viel Geld in jede auch noch so absurde Startup- oder Anlage-Idee. Ein krasses Beispiel dafür, was Menschen tun, wenn sie nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, ist die Kryptobranche. Warum sich Kleinanleger über Token an irgendeinem Gemälde oder einem Oldtimer beteiligen sollen, ist mir bis heute schleierhaft geblieben. Ich würde sogar den inzwischen Angst und Schrecken verbreitenden Fachkräftemangel zum Teil darauf zurückführen, dass solche Auswüchse junge Menschen vom Arbeitsmarkt oder aus sinnvollen Berufen weggeholt haben.
Renditen wirken wieder vernünftig
2. Es bereitet keine Kopfschmerzen mehr, sich mal wieder einen guten alten Rentenfonds zu kaufen. Von Long-short- und Absolute-Return-Gefummel habe ich nie sonderlich viel gehalten (auch bei Aktien nicht). Und Renditen von 4 Prozent für ganz normale Investment-Grade- und über 7 Prozent für Hochzinsanleihen wirken einfach viel vernünftiger als das, was die Märkte in den … sagen wir … vergangenen fünf Jahren geboten haben. Selbst wenn also die Kurse wirklich noch weiter fallen sollten, bieten solche Renditen inzwischen wieder bequeme Polster.
3. Aufgepumpte Aktienmärkte sind ebenfalls wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet. Vor allem die schier unverwundbaren Facebook (minus 66 Prozent), Alphabet (minus 39 Prozent), Apple (minus 25 Prozent) und Amazon (minus 49 Prozent) ebenso wie die komplette Technik-Branche haben einiges von der in ihr aufgestauten heißen Luft abgelassen. Ich will nicht gleich von einem Schnäppchenmarkt schreiben. Aber der MSCI World kommt inzwischen mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 18,0, einem Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) von 2,8 und einer Dividendenrendite von 2,1 Prozent daher. Beim MSCI Emerging Markets, also Schwellenländeraktien liegt das KGV bei 12,5, das KBV bei 1,6 und die Dividendenrendite bei 3,4 Prozent. Das ist ohne Zweifel erst einmal günstig.
Mit einem Satz: Nach langer Zeit wirken die Märkte endlich mal wieder normal. Wie tief es jetzt noch geht und wohin uns die Rezession führt, weiß ich leider nicht (nein, ich lasse jetzt den Kalauer mit der Glaskugel). Aber meine Einzahlpläne in Aktienfonds laufen. Ich hoffe, Ihre auch.
In diesem Sinne: Frohes Fest und auf ein besseres neues Jahr!
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