Der Versicherungs- und Rechtsexperte Professor Dr. Hans-Peter Schwintowski. © privat
  • Von Redaktion
  • 17.08.2023 um 14:07
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Außer Erleichterungen bei Arbeitsprozessen bietet die Anwendung von Finanznormen Vermittlern vor allem eines: Rechtssicherheit. Wer sie nicht anwendet, muss das im Haftungsfall vor Gericht gut begründen können, schreibt Versicherungsexperte Hans-Peter Schwintowski in seinem Gastbeitrag.

Die Existenz der vier DIN-Standards für die Finanzberatung dürfte mittlerweile jeder Finanzberaterin und jedem Vermittler in Deutschland bekannt sein. Als dass da wären die Finanzanalyse-Norm DIN 77230 inklusive dem dazu gehörigen Normmodul zur ESG-Abfrage für Privathaushalte, die Finanzanalyse-Norm DIN 77235 für Gewerbetreibende, die Vermögens- und Risikoanalyse-Norm DIN 77223 und für die Baufinanzierung die DIN Spec 77233.

Diese Normen helfen beispielsweise herauszufinden, wie hoch die individuelle Hinterbliebenenabsicherung für eine Familie mit zwei Kindern sein muss. Oder: Wie viel Liquidität ein Hausbesitzer jeweils benötigt? Oder: Was ist wichtiger – Hausratversicherung, Rechtsschutz oder Unfallversicherung?

Natürlich werden noch viele weitere Fragen durch eine DIN-Analyse beantwortet. Darum soll es hier nicht gehen. Entscheidend ist die Frage, ob jemand, der oder die Versicherungen oder Anlageprodukte vermittelt und darüber berät, die in diesem Bereich geltenden DIN-Normen kennen muss. Kommen Vermittler womöglich in die Haftung (Paragraf 63 Versicherungsvertragsgesetz, VVG), wenn sie DIN-Normen entweder nicht kennen oder nicht anwenden? Könnte es sein, dass die VSH-Versicherung den Deckungsschutz wegen wissentlicher Pflichtverletzung versagen könnte, wenn ein Vermittler womöglich DIN-Normen in der Beratung nicht berücksichtigt? Setzt die Beratung in „bestmöglichem Interesse“, so wie von Paragraf 1a Absatz 1 VVG gefordert, sogar die Zugrundelegung von DIN-Normen voraus?

Die folgenden Überlegungen zeigen, dass die deutschen Gerichte jedenfalls davon ausgehen, dass Vermittler die für sie einschlägigen DIN-Normen kennen und wissen, was sie tun, wenn sie sie nicht anwenden. Jedenfalls, so der Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung, müssen die auf Schadensersatz verklagten Beraterinnen oder Vermittler im Zweifel darlegen und beweisen, dass Schäden nicht auf Verletzung „anerkannter Regeln der Technik“ wie die DIN-Normen beruhen. Also auch im Falle ihrer Beachtung entstanden seien würden.

Normen tragen zur Rechtssicherheit bei

Warum? Als DIN-Normen werden alle Normen bezeichnet, die das Deutsche Institut für Normung (DIN) herausgibt. DIN ist durch Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland als zuständige nationale Normungsorganisation und Vertreter Deutschlands in den europäischen und internationalen Normungsorganisation anerkannt.

Im Normenvertrag heißt es:

Dem DIN kommt (…) die Aufgabe zu, die Bundesregierung durch Beratung zu unterstützen und durch Ausarbeitung von DIN-Normen (…) allgemein anerkannte Regeln der Technik zu schaffen, die es ermöglichen, in Rechtsvorschriften auf Normen Bezug zu nehmen.

Um dem gerecht zu werden, muss eine DIN-Finanznorm von einem Ausschuss aus allen betroffenen Fach- und Interessentenkreisen (Wissenschaft, Produktion, Anwender, Verbraucher, Politik) in einem aufwändigen Verfahren und unter Aufsicht von DIN entworfen und im Konsens verabschiedet und schließlich veröffentlicht werden. Die Entstehung einer DIN-Norm ist gerade wegen des Konsensprinzips schwierig.

Der Inhalt der Normen hat sich an den Bedürfnissen der Allgemeinheit zu orientieren und den jeweiligen Stand der Wissenschaft und Technik sowie die wirtschaftlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen. Normen für Finanzdienstleistungen ordnen kreative Prozesse, indem sie die Rahmenbedingungen, Abläufe und die Organisation standardisieren. Sie sparen Zeit und Geld und fördern gleichzeitig die Transparenz. Normen tragen zur Rechtssicherheit beim Ablauf von Entscheidungsprozessen oder Prüffolgen bei.

So liefert beispielsweise die Finanzanalyse-Norm DIN 77230 die Grundlage für eine Finanzberatung für den Privathaushalt. Sie differenziert bis zu 42 Risiken und Notwendigkeiten aus den Themenbereichen Absicherung, Vorsorge und Vermögensplanung. Ziel ist es, den Grundbedarf abzusichern und den Lebensstandard zu erhalten oder zu verbessern.

Die Finanzanalyse folgt dabei vier Prinzipien:
  1. Gegenwärtige Risiken vor zukünftigen Risiken
  2. Existenzbedrohende Risiken vor nicht-existenzbedrohenden
  3. Unvermeidbare Risiken vor vermeidbaren
  4. Versicherungspflichtige Risiken vor nicht-versicherungspflichtigen

Das heißt, die Norm sorgt letztlich dafür, dass den Kunden zunächst einmal die Versicherungen und/oder Finanzprodukte vermittelt werden, die sie unbedingt benötigen. Und Kunden können nach einer Finanzanalyse nach der DIN 77230 erkennen, dass Berater ihnen nur Finanzprodukte empfehlen, die zu ihrem tatsächlichen Bedarf passen.

Finanz-Dienstleistungsnormen sind für Finanzberater von Vorteil, weil
  • durch sie eine klare transparente und unbestechliche Aussage über die Unabhängigkeit und Kompetenz der Vermittler entsteht,
  • sie dem Kunden zeigen, dass die auf die DIN-Normen zertifizierten Vermittler unabhängig und frei von eigenen Interessen beraten,
  • hinter Normen bekanntermaßen der Sachverstand einer ganzen Branche, vertreten durch den Normausschuss, steht, sodass mit großer Sicherheit eine Beratung auf hohem Qualitätsniveau gewährleistet ist.

Auch gibt die Normanwendung den Produktanbietern die Sicherheit, dass ihr Vertrieb vertrauenswürdig und qualitätsbewusst berät und vermittelt. Und ganz nebenbei liefert die Normanwendung den Produktanbietern wichtige Erkenntnisse über den Bedarf am Markt und trägt so zu Produktverbesserung in Sinne des Kundennutzens bei.

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