- Von Redaktion
- 17.01.2025 um 12:26
Pfefferminzia: Herr Ostheim, ganz plump gefragt: Wer entscheidet, ob jemand berufsunfähig ist?
Oliver Ostheim: Faktisch entscheidet das natürlich der Versicherer. Als Versicherungsnehmer muss man zunächst einen Antrag auf Leistungen stellen. Der Versicherer prüft diesen Antrag in einem festgelegten Verfahren und entscheidet: Entweder er erkennt die Berufsunfähigkeit an und zahlt die Berufsunfähigkeitsrente, oder er lehnt den Antrag ab, weil er die Voraussetzungen nicht als erfüllt ansieht.
Was braucht der Versicherer, um entscheiden zu können?
Ostheim: Der erste Schritt ist unkompliziert. Der Versicherungsnehmer stellt formlos einen Antrag. Ein kurzer Brief, eine E-Mail oder sogar ein Anruf reicht meistens schon aus. Es genügt im Grunde zu sagen: „Ich glaube, ich bin berufsunfähig. Bitte prüfen Sie das.“
Wie umfangreich ist so ein Formular?
Ostheim: In der Regel umfasst es mindestens 15 Seiten, manchmal sogar bis zu 30. Das ist für viele Versicherte, die gesundheitlich angeschlagen sind, eine große Herausforderung. Wir erleben oft, dass Ehepartner oder andere Familienmitglieder sich dann an uns wenden, damit wir unterstützen.
Zweifellos spielen auch Ärzte eine wichtige Rolle. Was für ein Arzt muss denn die Berufsunfähigkeit bestätigen?
Ostheim: Ein ärztlicher Nachweis ist in den Versicherungsbedingungen vorgeschrieben. In der Regel verlangen die Versicherer ein Gutachten oder Befunde von einem Facharzt. Wenn jemand beispielsweise Rückenprobleme hat, dann möchte der Versicherer Unterlagen von einem Orthopäden oder einem Neurologen sehen. Dieser Facharzt erstellt Diagnosen und Befunde und sollte im Idealfall auch einschätzen, ob eine Berufsunfähigkeit vorliegt.
Kann das jeder Spezialist?
Ostheim: Im Prinzip ja. Jeder Facharzt, der den Patienten behandelt, kann eine Einschätzung vornehmen. Meistens ist es aber der behandelnde Arzt, der den Patienten bereits kennt und über den Krankheitsverlauf informiert ist. Seine Befunde und Diagnosen werden dann an den Versicherer weitergeleitet.
Und dann?
Ostheim: Der Versicherer prüft, ob die medizinischen Unterlagen ausreichen, um die Berufsunfähigkeit festzustellen. Häufig reicht das jedoch nicht, und der Versicherer beauftragt einen externen Gutachter. Der erstellt ein umfangreiches Gutachten, auf das sich der Versicherer dann stützt, um seine endgültige Entscheidung zu treffen.
Wie lange dauert so etwas in der Regel?
Ostheim: Das gesamte Leistungsantragsverfahren dauert in unserer Praxis – wenn alles optimal läuft – etwa zwei bis drei Monate. Das ist aber wirklich die Ausnahme und ein sehr flotter Ablauf. Im Durchschnitt dauert es eher vier bis sechs Monate.
Und wie könnten Sie da helfen?
Ostheim: Wir nehmen direkten Kontakt mit dem Versicherer auf, listen detailliert auf, welche Unterlagen bereits eingereicht wurden, und weisen darauf hin, dass eine derart lange Bearbeitungszeit nicht vertragsgemäß ist. Oft hören wir als Begründung „Personalmangel“. Das mag sein, ist aber nicht das Problem des Versicherungsnehmers. Der Versicherer muss seine internen Abläufe selbst regeln. Wenn wir merken, dass es trotzdem nicht vorangeht, machen wir dem Versicherer klar, dass wir uns andere Schritte überlegen müssen.
Was passiert, wenn der behandelnde Arzt die Berufsunfähigkeit bestätigt, der Gutachter des Versicherers das aber anders sieht?
Ostheim: Das ist ein Problem. In der Regel füllt der behandelnde Arzt die Formulare so aus, dass eine Berufsunfähigkeit bestätigt wird – zumindest meistens. Der Sachverständige, den der Versicherer beauftragt und bezahlt, betrachtet die Situation jedoch oft aus einem anderen Blickwinkel. Er stützt sich dabei auf die Unterlagen, die der Versicherung vorliegen, sowie auf seine eigene Einschätzung aus einer zwei bis dreistündigen Untersuchung. Auf dieser Basis soll er entscheiden, ob die betroffene Person tatsächlich seit mindestens 18 Monaten berufsunfähig ist.
Man muss sich die Frage stellen, wie neutral ein Gutachter sein kann, dessen Geschäftsmodell möglicherweise darauf basiert, regelmäßig Gutachten für Versicherungen zu erstellen. Vor allem bei psychischen Erkrankungen ergeben sich häufig Bewertungsspielräume, die interpretierbar sind. Ob diese Spielräume absichtlich ausgenutzt werden, kann ich nicht beurteilen – mir hat bisher niemand bestätigt, dass dies der Fall ist. Es wäre jedoch nicht völlig abwegig.
Kann man gegen ein negatives Gutachten vorgehen?
Ostheim: Das ist leider nicht einfach. Ein negatives Gutachten übernimmt der Versicherer in der Regel und fügt es in die Leistungsentscheidung ein. Mandanten fragen uns häufig, ob sie ein Gegengutachten erstellen lassen sollten. Theoretisch ist das möglich, aber es ist sehr zeitaufwendig und teuer. Außerdem gibt es keine Garantie, dass der Versicherer seine Entscheidung ändert. Deshalb raten wir meistens davon ab und empfehlen stattdessen, direkt ein Klageverfahren einzuleiten
Das Interview können Sie hier anschauen.
„Ein Antrag auf Berufsunfähigkeit ist oft ein langer Weg” von Pfefferminzia auf Vimeo.
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