- Von Jens Lehmann
- 17.03.2025 um 11:11
Beitragsdynamik, rückwirkende Rentenzahlungen, Hilfen im Leistungsfall: Eine gute Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) lässt kaum Kundenwünsche offen. Die Qualitätsunterschiede zwischen den Top-Angeboten sind gering, die Produkte ausgereift. Doch nach ruhigeren Jahren steht der BU-Markt möglicherweise vor größeren Veränderungen. Es geht um die Verweisungsregeln.
Grundsätzlich haben die BU-Versicherer die Möglichkeit, berufsunfähige Kunden unter bestimmten Voraussetzungen auf eine andere Tätigkeit zu verweisen und die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente einzustellen oder von vornherein zu verweigern. Möglich machen das abstrakte und konkrete Verweisungsregeln im Bedingungswerk der Versicherer.

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„Verzicht auf die konkrete Verweisung spaltet die Vermittlerschaft“
Allerdings spielt die abstrakte Verweisung seit Jahren kaum noch eine Rolle. Denn bis auf sehr wenige Ausnahmen haben die Versicherer die Klausel längst aus ihren Versicherungsbedingungen gestrichen – und folgten damit dem Beispiel des Deutschen Herold. Der hatte bereits vor mehr als 25 Jahren als erste Gesellschaft auf die abstrakte Verweisung verzichtet.
Für BU-Kunden bedeutet das einen echten Mehrwert. Denn verzichtet der Versicherer nicht auf die abstrakte Verweisung, könnte er einen Kunden nach festgestellter Berufsunfähigkeit auf eine gleichwertige Tätigkeit verweisen – und BU-Leistungen verweigern. Voraussetzung dafür ist lediglich, dass die Verweisungstätigkeit dem bisherigen Berufsbild und der Qualifikation des Versicherten entspricht. Ob er sie am Ende auch tatsächlich ausübt, ist unerheblich. Bei der abstrakten Verweisung zählt allein, ob der Berufsunfähige die zugewiesene Tätigkeit theoretisch ausführen könnte.
Abstrakte und konkrete Verweisung
Das Risiko, eine passende Stelle auf dem Arbeitsmarkt zu finden, liegt allein beim Versicherten. Im Leistungsfall ist das ein großer Nachteil für Kunden. Die meisten Versicherungsnehmer wissen das und sprechen ihren Vermittler im BU-Beratungsgespräch aktiv auf die abstrakte Verweisung an.
Ganz anders sieht es bei der konkreten Verweisung aus. Unter BU-Kunden ist sie weitgehend unbekannt. Bei der konkreten Verweisung geht es um die Frage, inwieweit ein Versicherter während der BU-Leistungsphase einer anderen Arbeit nachgehen darf. Grundsätzlich ist es zwar völlig in Ordnung, wenn sich ein Betroffener aus eigenem Willen eine neue Beschäftigung sucht. Doch kann die Versicherung die Zahlung der BU-Rente einstellen, wenn ein Kunde im Leistungsfall eine Tätigkeit aufnimmt, die hinsichtlich der sozialen Wertschätzung seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.
Zudem muss sein Bruttoverdienst im neuen Job mindestens 80 Prozent des früheren Gehalts im alten Beruf betragen. Dann kann der Versicherer konkret verweisen und die BU-Rente streichen. Im Jahr 2022 endeten nach Zahlen des Analysehauses Franke und Bornberg 3 Prozent aller BU-Leistungsfälle auf diese Weise.
Keine Verweisung bei Nachprüfung
Doch daran könnte sich nun etwas ändern. Denn erste BU-Versicherer verzichten auf die konkrete Verweisung. Den Anfang hat HDI vor einem Jahr mit dem „Ego Top“-Tarif gemacht. Bei Neuverträgen verzichtet das Unternehmen in der Folgeprüfung für alle Berufe auf die konkrete Verweisung, ohne dafür die Versicherungsprämie zu erhöhen.
„Bei uns gilt seit Anfang 2024: Solange eine Berufsunfähigkeit für den zuletzt ausgeübten Beruf besteht, zahlen wir die vereinbarte BU-Rente – unabhängig davon, ob die versicherte Person zwischenzeitlich einen anderen Beruf aufgenommen hat“, sagt Fabian von Löbbecke, Vorstand der HDI Lebensversicherung. Er zieht eine positive Zwischenbilanz: „Wir haben viel Komplexität aus der Beratung genommen und schaffen Klarheit und rechtliche Sicherheit für unsere Kunden.“
Auch der Job der BU-Vermittler wird ein Stück weit leichter. Sie müssen ihren Kunden in der Beratung nicht mehr erklären, welche Bedingungen für die konkrete Verweisung gelten. Zudem können sie das neue BU-Feature nutzen, um gezielt die Berufsgruppen anzusprechen, für die der Verweisungsverzicht besonders interessant ist: Handwerker, Pflegepersonal und andere Beschäftigte in körperlichen Berufen. Denn sie tragen statistisch ein erhöhtes Risiko, berufsunfähig zu werden und sich deshalb im Lauf ihres Berufslebens umorientieren zu müssen.
Daneben bringt die Neuregelung auch Vorteile für den BU-Versicherer: Mit dem Verzicht auf die konkrete Verweisung sinkt die Zahl der Konflikte mit Versicherten. Denn häufig sind sich selbst Experten nicht einig darüber, ob es sich bei einem neuen Job um eine Verweisungstätigkeit handelt, die zum Wegfall der BU-Leistungen führt. Die Prüfung ist kompliziert und bindet Ressourcen bei den Versicherern – und am Ende landet ein Teil der Fälle trotz aller Sorgfalt vor Gericht. Von Löbbecke: „Diese Unsicherheiten haben wir mit dem Verweisungsverzicht abgeschafft. Das ist ein Meilenstein im BU-Markt.“

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