- Von Joachim Haid
- 27.08.2019 um 10:15
Der Mensch – ein Holobiont
Der US-amerikanische Mikrobiologe Martin J. Blaser erhebt hierzu in seinem Buch „Antibiotika Overkill“ Einspruch:
„Man hat die Hygienehypothese… falsch gedeutet. Wir müssen nämlich vor allem die Mikroorganismen betrachten, die in und auf unserem Körper leben. Das ist eine Riesenbevölkerung von kooperierenden und miteinander in Wettbewerb stehenden Mikroben, deren Gesamtheit man Mikrobiom nennt… Wird eine wichtige Spezies ausgerottet, gefährdet das das gesamte Ökosystem.“ Und weiter: „Auf den Punkt gebracht: Unser Mikrobiom hält uns gesund. Aber wir rotten Teile davon aus“.
Überall auf und in unserem Körper leben Bakterien. Nach und nach erkennen wir, dass die meisten davon für uns nicht schädlich, sondern im Gegenteil sogar wichtig für unsere Gesundheit sind. Ja regelrecht überlebenswichtig sein können. Bakterien auf unserer Haut sorgen dafür, dass sich dort krankmachende, pathogene Keime, nur schlecht ausbreiten können. Unsere Haut verfügt also über ein eigenes Mikrobiom. Genau wie unser Darm, unser Mund und der Genitaltrakt der Frau über ein eigenes, ganz spezifisches Mikrobiom verfügen.
Innerhalb der Menschheit kommen zwar gleiche Bakterienarten vor. Dennoch unterscheidet sich die jeweilige Besiedlung nicht nur von Region zu Region. Jeder Mensch ist individuell so unterschiedlich bezüglich der Bakterienarten und Anzahl, dass innerhalb der Gerichtsmedizin am Fingerabdruck der Zukunft geforscht wird. Bei jedem Schritt und jeder Bewegung verlieren wir nicht nur Körperzellen, sondern auch Millionen von Mikroben, die auf uns leben. „Dieser mikrobielle Fingerabdruck könnte in der Zukunft helfen, Verbrechen aufzuklären“, so der Mikrobiologe Jack Gilbert von der Universität Chicago.
Forscher schätzen, dass allein die Mikroben in unserem Darm bis zu 2,5 Kilogramm wiegen. Nimmt man die Zellen aller Mikroorganismen zusammen, die auf und in uns leben, so gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass deren Anzahl größer ist, als die unserer menschlichen Zellen. Diese wird immerhin auf bis zu 100 Billionen geschätzt! Dazu kommt, dass in den Jahrmillionen der Evolution in unsere Gene auch solche von Mikroorganismen eingeschleust wurden. Viele davon befinden sich bis heute in unserem genetischen Code. Selbst unsere eigenen Körperzellen sind also nicht zu 100 Prozent menschlich. Im Gegenteil.
Der Mensch besteht aus etwa 20.000 Genen. Die Vielzahl unserer Mikroben kommt geschätzt auf 2 Millionen Gene. 99 Prozent der Gene der Organismen, die auf und in unserem Körper vorkommen, stammen von unserem Mikrobiom. Nur etwa ein Prozent ist menschlich. Der Buchtitel von Richard David Precht „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ erhält damit eine ganz neue Dimension. Der Mensch ist also kein einzelnes, unabhängiges Lebewesen, sondern eine Lebensgemeinschaft von Millionen unterschiedlicher Organismen.
Bis vor einigen Jahren wurde in diesem Zusammenhang von einem Superorganismus gesprochen. Da es sich dabei aber um eine Gemeinschaft gleichartiger Lebewesen handelt, die durch Kooperation mehr erreichen können, als das jeweils einzelne (wie bei Ameisen und Bienen), spricht man beim Menschen vom Holobiont. Dieses Wort setzt sich aus verschiedenen griechischen Ausdrücken zusammen. Hólos – alles, ganz, gesamt, bíos – Leben und óntos – Seiendes, Wesen. Eingeführt wurde der Begriff 1991 durch die Biologin Lynn Margulis.
Heute wissen wir, dass der Mensch also ein Lebewesen ist, welches aus einer Vielzahl unterschiedlicher zusammenarbeitender Wesen besteht. Die meisten der auf und in uns lebenden Mikroorganismen können ganz gut ohne uns leben. Wir ohne sie jedoch nicht!
Unnötige Kaiserschnitt-Geburten und weniger stillende Mütter
Wie bereits in Teil I dieser Reihe erwähnt, beginnt die Besiedlung des Menschen mit schützenden Mikroben bereits während der Geburt. Auch beim Stillen nimmt der Säugling Bakterien zu sich, die sich auf der Mutterbrust befinden. In weiten Teilen der Welt nehmen Kaiserschnitte jedoch immer mehr zu. Vor allem die geplanten, die also keine medizinischen Gründe haben. Viele Menschen fühlen sich unangenehm berührt, wenn Mütter in der Öffentlichkeit ihr Kind stillen. Das führt dazu, dass die natürlichste Form der menschlichen Ernährung regelrecht stigmatisiert wird.
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