- Von Andreas Harms
- 08.06.2022 um 12:59
Der Begriff „Gezeitenwende“ ist ohne Frage reichlich überstrapaziert. Zurzeit scheint er jedoch ausnahmsweise mal angebracht. Anders lässt es sich nicht erklären, dass die Investmentbranche höhere Leitzinsen und eine zupackende Europäische Zentralbank (EZB) anmahnt. Ausgerechnet jene Branche, die über stetig sinkende Zinsen und damit aufgepumpte Aktienkurse über Jahrzehnte quasi ein Sonderkonjunkturprogramm erfahren hat.
Doch jetzt geht sie mit der zögernden EZB etwas härter ins Gericht. „In Anbetracht einer Inflationsentwicklung, die seit vielen Monaten deutlich über allen Erwartungen liegt, wäre unserer Meinung nach eine erste Zinserhöhung bereits im Juni angemessen“, drängt beispielsweise Michael Weidner, Leiter für europäische Anleihen bei Lazard Asset Management Deutschland. Und auch das Strategieteam von J.P. Morgan Asset Management lässt in einer Analyse verlauten: „Ein negativer Leitzins erscheint in diesem wirtschaftlichen Umfeld nicht mehr angemessen.“
Läuft ja gut für die EZB … ein bisschen
EZB-Direktorin Isabel Schnabel spricht von Zinswende
Die Kanonen donnern – und die Aktien brechen ein
Um 8,1 Prozent stiegen die Preise in der Eurozone im Mai im Vergleich zum Vorjahr. Einen so hohen Wert gab es in Zeiten des Euro noch nie. Und obwohl es laut Statut ihr vorrangiges Ziel ist „die Preisstabilität zu gewährleisten“, tut die EZB bislang: nichts. Der Leitzins, zu dem sich Banken für eine Woche Geld leihen dürfen, liegt nach wie vor bei null. Und wenn sie über Nacht Geld bei der EZB parken, müssen sie weiterhin einen Strafzins von 0,5 Prozent zahlen. Laut Bundesbank lag der sogenannte reale Zins (Zins minus Inflation) für Bankeinlagen mit zwei Jahren Laufzeit Ende April in Deutschland bei minus 6,5 Prozent. So tief wie nie zuvor.
Passt das alles noch in diese Zeit? Offenbar nicht. Im Gegenteil: „Je länger die aktuell hohe Inflation andauert und geldpolitisch unbeantwortet bleibt, desto schwieriger wird es für die EZB, die notwendige geldpolitische Kehrtwende durch Zinserhöhungen umzusetzen“, sagt Weidner.
Erstmal Käufe beenden …
Doch nach krassen Aktionen riecht es in Frankfurt eher nicht. So schnell die Zentralbanker in Krisen stets den Zins nach unten drückten, so bedächtig verhalten sie sich jetzt. Für die Sitzung am morgigen Donnerstag erwarten Marktteilnehmer lediglich, dass sie damit aufhören, Staatsanleihen zu kaufen. Einen ersten Zinsschritt könnte es dann im Juli geben und im Herbst einen Einlagezins von zumindest nicht mehr unter null.
„Dies passt zur EZB-Strategie der vergangenen Monate: dem Beschäftigungsziel Vorrang vor dem eigentlichen Ziel der Preisstabilität zu gewähren, in der Hoffnung, dass ein großer Teil der Inflation vorübergehenden Charakter hat“, schimpft Matthias Jörss, Chefvolkswirt bei der Investmentgesellschaft Salytic Invest.
Doch dass die Inflation einfach so wieder geht, erwartet inzwischen kaum noch jemand. „Die Zahlen legen nahe, dass mit einem schnellen Rückgang der Inflationsraten nicht zu rechnen ist, da der Preisauftrieb in den letzten Monaten deutlich an Breite gewonnen hat“, sagt Ulrike Kastens, Volkswirtin Europa bei der DWS. Obwohl sich die Lohnsteigerungen noch in Grenzen halten, sei es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Forderungen nach Inflationsausgleich in den Lohnabschlüssen niederschlagen.
Seite 2: Warum Investmenthäuser plötzlich steigende Zinsen mögen
0 Kommentare
- anmelden
- registrieren
kommentieren