Versicherungswissenschaftler Fred Wagner © Eric Kemnitz
  • Von Andreas Harms
  • 10.02.2023 um 14:33
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Ist Ihnen auch schon der scheinbare Widerspruch aufgefallen? Obwohl die Kurse von Anleihen und Aktien eingebrochen sind, steigen die Solvenzquoten der Versicherer. Warum das so ist, erklärt uns der Versicherungswissenschaftler Fred Wagner im Interview. Er ist unter anderem Vorstand im Institut für Versicherungswissenschaften an der Universität Leipzig.

Pfefferminzia: Herr Wagner, lassen Sie uns bitte über ein Phänomen sprechen, das im vergangenen Jahr zu beobachten war. Die Zinsen stiegen, im Gegenzug fielen die Kurse von Anleihen. Aktienkurse brachen ebenfalls ein, und trotzdem verbessern sich die Solvenzquoten der Versicherer. Wie kommt das?

Fred Wagner: Lassen Sie mich zunächst damit beginnen, wie eine Solvenzbilanz ermittelt wird.

Gern.

Wagner: In die Solvenzbilanz gehen keine Buchwerte ein, sondern Zeitwerte. Das gilt für beide Bilanzseiten, also die Aktiva und die Passiva. Wenn nun die Zinsen steigen, verliert das in festverzinsliche Wertpapiere angelegte Vermögen an Wert. Diese Kursverluste sind in der Solvenzbilanz abzuschreiben.

Das ist der alte Mechanismus am Anleihemarkt.

Wagner: Genau, weil die Papiere feste Zinsen versprechen, verlieren sie in einem Umfeld mit steigenden Zinsen an Wert. Je länger sie laufen, desto mehr verlieren sie. Das ist auch logisch, weil der geringere Zinssatz – im Vergleich zum aktuellen Kapitalmarktzins – noch über eine längere Restlaufzeit gilt. Derselbe Mechanismus gilt aber auch für zinssensitive Verpflichtungen, die auf der Bilanzpassivseite abgebildet sind.

Geld, das sie Kunden irgendwann mal auszahlen müssen.

Wagner: Ja. Und auch für diese Beträge muss der Versicherer einen Zeitwert ermitteln. Er muss errechnen, wie viel Geld heute nötig ist, um später diese Verpflichtungen bezahlen zu können. Auch dabei sind allerdings die Zinsen zu berücksichtigen, die bis zur Fälligkeit noch realisierbar sind. Steigen die Zinssätze am Kapitalmarkt, wird weniger benötigt, um zusammen mit den Zinsen die Verpflichtungen bei Fälligkeit erfüllen zu können.

„Summen, die dem Kunden bei Fälligkeit garantiert wurden“

Wie ist das in der Lebensversicherung?

Wagner: In der Lebensversicherung sind die Verpflichtungen die Summen, die dem Kunden bei Fälligkeit garantiert wurden. Von diesen Summen zieht der Versicherer noch die Prämien ab, die der Kunde bis dahin noch zu zahlen hat. Denn die kommen ja noch ins Haus, also muss der Lebensversicherer sie heute auch nicht zurückstellen. Und er zieht die Zinsen ab, die er beim aktuellen Zinssatz noch bekommen kann.

Und dieser Zinsbetrag ist nun gestiegen, während die Prämien gleichgeblieben sind?

Wagner: Richtig, damit kann der Versicherer bei steigendem Kapitalmarktzins mehr als zuvor abziehen, um zum Zeitwert zu kommen. Der Zeitwert der Verpflichtung sinkt also. Somit reduzieren sich auf beiden Seiten der Bilanz die Zeitwerte. Allerdings haben beim Lebensversicherer die Vermögensgegenstände im Durchschnitt kürzere Restlaufzeiten als die Versicherungsverträge, also die Verpflichtungen.

„Restlaufzeiten von 30 Jahren oder mehr“

Inwiefern?

Wagner: Die Laufzeiten der festverzinslichen Wertpapiere auf der Aktivseite sind meist nicht länger als zehn Jahre, längere Laufzeiten sind die Ausnahme. Die passivseitigen Verpflichtungen laufen hingegen so lang, wie die Versicherungsverträge. In der Lebensversicherung sind das oft 30 Jahre oder mehr. Damit sind die Restlaufzeiten der Versicherungsverträge im Durchschnitt typischerweise auch länger als die der festverzinslichen Wertpapiere. Das führt wiederum dazu, dass beim Lebensversicherer mit steigenden Zinssätzen am Kapitalmarkt die Zeitwerte der Verpflichtungen stärker sinken als die Zeitwerte des Vermögens. Der Abzinsungseffekt fällt dann also bei den länger laufenden Verpflichtungen stärker ins Gewicht als beim Vermögen.

Beides schrumpft, aber das eine schrumpft stärker als das andere.

Wagner: Genau. Und weil das Vermögen weniger schrumpft als die Schulden, haben die Lebensversicherer unter dem Strich mehr Eigenkapital. Damit steigen die Solvenzquoten. Das ist übrigens auch der Grund, weshalb in der Phase sinkender Zinsen die Solvenzquoten schwächer wurden. Die Verpflichtungen wurden weniger stark abgezinst, weshalb ihr Zeitwert stieg. Es geht immer um das Verhältnis zwischen den Vermögenswerten und den Verpflichtungen.

Damit haben Sie Licht ins Dunkel gebracht. Haben Sie vielen Dank für die Auskünfte.

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Andreas

Andreas Harms

Andreas Harms schreibt seit 2005 als Journalist über Themen aus der Finanzwelt. Seit Januar 2022 ist er Redakteur bei der Pfefferminzia Medien GmbH.

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